Mittwoch, 6. November 2019

Frauen erzählen: Saima Linnea


Saima Linnea Sägesser (*1993) ist vor kurzem in den Stadtrat nachgerutscht und bringt als junge Frau frischen Wind ins Gremium. Obwohl erst Mitte Zwanzig kann sie inzwischen auf eine fast zehnjährige Laufbahn in der sozialdemokratischen Partei zurückblicken. 2012 und 2016 kandidierte sie als Stadträtin, 2014 und 2018 als Grossrätin. Angefixt von der Politik wurde sie bei einem Podium zum Stimmrechtsalter 16. „Ich erinnere mich noch an Nadine Masshard, Reto Müller und Patrick Freudiger, die damals bei uns am Gymnasium diskutierten. Das war ziemlich cool, dass sie sich dafür die Zeit genommen haben, weil wir ja damals noch gar nicht demokratisch mitbestimmen konnten.“ 

Später wurde sie von Reto Müller ermuntert, in die Partei einzutreten. Nach dem Besuch einer SP – Weihnachtsfeier, stand ihre Entscheidung definitiv fest und sie kümmerte sich gleich selbst um das Ausfüllen der Beitrittskarte. Das ist bezeichnend für sie. Neugierig, offen und bereit sich in alles Neue zu stürzen. Als sie als Pfadileiterin aufhörte, intensivierte ihr Engagement in der Partei. „Ich musste die Lücke füllen. Es gehört einfach zu mir und meinem Leben, mich ehrenamtlich zu betätigen.“

Ihr Vater wählte zwar immer SP, ist Mitglied einer Gewerkschaft und durchaus politisch interessiert, die Lokalpolitik war jedoch kein Dauerthema am Küchentisch. „Wir sind sicher nicht eine dieser Politikerdynastien, bei der alle Mitglieder in der Politik sind“, erklärt sie. Ihre Mutter ist Finnin, deshalb hat Saima als Doppelbürgerin, die Möglichkeit auch bei den Europawahlen ihre Stimme abzugeben. „Ich bin der Ansicht, dass Wählen nicht nur ein Recht ist. Sondern auch eine Pflicht“, betont sie. 

Am Anfang ihrer politischen Laufbahn hatte sie nie mit Widerständen zu kämpfen. Weder ihre Jugend noch ihre Weiblichkeit wurden ihr als Nachteil ausgelegt, im Gegenteil. Ihre unverbrauchte Art erleichterte ihr vieles. Von Geschlechterklischees blieb Saima lange Zeit unbelastet. Sie und ihre jüngere Schwester wurden frei von eingefahrenen Rollenbildern erzogen. So war es auch nie ein Diskussionsgrund, dass sie sich nicht für Ballett oder Reiten interessierte, sondern lieber Karate lernte und als Pfadfinderin durch den Wald tobte. 

Deshalb waren feministische Themen für sie in der ersten Zeit als Politikerin nicht sehr präsent. „Für mich spielte das Geschlecht wirklich nie eine Rolle. Es war für mich immer selbstverständlich, dass ich die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie ein Mann habe.“ Dann begann sie ihr Studium in Geschlechterforschung. „Ich begriff, dass ich eben nicht die gleichen Chancen habe wie ein Mann.“ Auch die Schilderungen von älteren Stadträtinnen, die für so vieles kämpfen mussten, sensibilisierten sie.  

Jetzt ist sie selbst Stadträtin und damit eine von gerade mal neun Frauen. In ihrer Fraktion – SP/GL – sind es sogar nur drei Frauen. Das macht es ihr als Nachrückerin noch schwerer, sich zu positionieren. „Ich hätte gerne eine Art Gotti gehabt, die mir ein paar Tipps gibt“, meint sie. Der ganze „Aktengugus“, wie sie es lachend nenn, sei nicht leicht zu verstehen. Dabei ist sie es sich eigentlich gewohnt, Einzelkämpferin zu sein. Sie reist alleine durch die Welt, auch „Kultur im Stöckli“, ihr Keller, indem sie Kunstschaffenden eine Plattform bietet, hat sie selbst auf die Beine gestellt. „Aber in der Politik bringt es nichts, alleine für etwas einzustehen. Man muss zusammen etwas erreichen.“ 

Als eine von wenigen Frauen in einer Männerdomäne unterwegs zu sein beschreibt Saima als anstrengend, obwohl es grossen Spass mache. „Es ist einfach so, dass Frauen mehr leisten müssen, sie müssen mehr investieren und mehr Akten lesen, weil sie stärker kritisiert werden. Jedes Wort einer Frau wird auf die Goldwaage gelegt. Das ist nicht einfach ein Empfinden, das sind belegbare Fakten“, führt sie aus. Mit diesem Wissen im Hinterkopf sei es schwierig, unbelastet Politik zu betreiben. Vor ihrer Zeit als Stadträtin hat sie sich nie gross Gedanken gemacht, wie man politisiert, sie hat einfach instinktiv gehandelt. Diese Freiheit fehle ihr im Stadtrat noch. Ein paar Frauen mehr an ihrer Seite würde die Eingewöhnung vereinfachen. 

Nur, warum fehlen sie denn, die Frauen im Stadtrat und im Gemeinderat? Saima vermutet, dass das auch am generellen Mangel an jungen Menschen in der Gemeindepolitik liegen könnte. „Ältere Menschen leben vielleicht noch vermehrt das klassische Rollenbild. Der Mann arbeitet und politisiert, die Frau schmeisst den Haushalt und kümmert sich um die Kinder.“ Woran es aber genau liegt, kann sie nicht benennen.

Selbst die SP, die eigentlich eine Vorreiterin ist, wenn es um eine geschlechtermässig ausgewogene Vertretung in der Politik geht, hat momentan einen tiefen Frauenanteil in der aktiven Gemeindepolitik. Im Gemeinderat sitzt gar keine linke Frau. „Wir hatten viele berühmte Männer auf der Liste, die enorm viel Stimmen geholt haben. Dadurch schnitten die Frauen schlechter ab“, interpretiert Saima die Wahlergebnisse von 2016. Und ja, es sei tatsächlich schwieriger, Kandidatinnen zu finden als Kandidaten. 

Frauen steckten einfach oft in Lebenssituationen, die eine Kandidatur erschweren. Etwa, wenn sie alleinerziehend sind und schlichtweg keine Zeit für ein zeitraubendes Amt haben. Zudem sei es nicht immer einfach, prominente Frauen mit guten Wahlchancen zu finden. „Wann ist denn eine Frau in Langenthal bekannt? Entweder weil sie einen prominenten Ehemann hat oder weil sie eine glänzende Karriere in der Wirtschaft hingelegt hat. Im letzteren Fall wollen sie das nicht aufgeben, um Politik zu machen“, führt Saima aus. 

Dazu kommt noch dazu, dass Frauen sich oft nicht gerade darum reissen im Mittelpunkt zu stehen. „Frauen haben grössere Selbstzweifel als Männer, ihnen fehlt oft der Mut dazu, auch mal draufgängerisch zu sein. Männer dagegen leben das geradezu rücksichtslos aus“, erläutert Saima. Sie ist überzeugt, dass diese charakterlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht genetisch bedingt sind. Vielmehr habe es mit Rollenbildern zu tun, die uns schon früh vermittelt würden und die gesellschaftlich, kulturell und historisch konstruiert worden sind. Da der draufgängerische Mann, dort die zurückhaltende Frau. 

Dass die Frauen so schlecht vertreten sind in der Langenthaler Politik, ist auch deshalb bedauerlich, weil gemischte Teams nachweislich besser arbeiten, als ein rein männliches oder rein weibliches Team. Das Co – Präsidium der SP Langenthal ist ein solches gemischtes Gremium. Saima ist die eine Hälfte, Roland Loser die andere. Für seine Sekretärin wurde sie zwar noch nie gehalten, dennoch spürt sie immer wieder, dass ihm als Mann automatisch mehr Kompetenz zugetraut wird. Ihn rufen die Leute an, wenn sie eine Frage haben. Mails beginnen mit „ich habe Roland Loser nicht erreicht, deshalb schreibe ich halt dir“ und auch die Presse will grundsätzlich mit ihm reden. Dabei sei Roland keiner, der das Rampenlicht um jeden Preis will. „Er verweist dann auch auf mich, wenn er das Gefühl hat, dass er jetzt genug in der Zeitung war“, berichtet Saima. Aber genau das sei die Frage: Wieso bekommt der Mann automatisch Aufmerksamkeit und die Frau muss sich diese erkämpfen?

„Die Medien fokussieren sich mehr auf die Männer“, schlussfolgert Saima. Und nicht nur das. Die Charaktereigenschaften würden anders betont. Was bei einem Mann als positiv herausgestrichen wird, wie zum Beispiel Ehrgeiz, wird bei einer Frau schnell negativ ausgelegt. „Frauen können es einfach nie recht machen. Sie sind zu prüde, zu sexy, zu männlich, zu mütterlich, zu freundlich, zu harsch…man hört nie: Diese Politikerin macht es perfekt,  es gibt immer was zu kritisieren.“ Als prominentes Beispiel nennt Saima den SP Bundesrat und die SP – Bundesrätin. „Simonetta wird auch in der SP - Basis ständig kritisiert. Alain dagegen ist der Liebling von allen.“

Möglicherweise liegt es auch an dieser nicht gerade zimperlichen Behandlung von Politikerinnen, dass viele Frauen lieber ganz auf ein solches Amt verzichten. So gab es in Langenthal auch noch nie eine Stadtpräsidentin. Paula Schaub unterlag 2006 sowohl SP – Mann Kurt Blatter als auch dem späteren SVP-  Stadtpräsidenten Thomas Rufener im Kampf um das Stadtpräsidium.

„Es war einfach klar, dass Reto kandidieren würde. Er hatte die grösste Erfahrung und er wollte es auch. Für so ein Amt muss man sich rechtzeitig in Position zu bringen. Und es gab schlichtweg keine Frau, die sich dafür interessierte“, antwortet Saima auf die Frage, wieso die SP sich 2016, als das Stadtpräsidium erneut zur Wahl stand, nicht für eine Frauenkandidatur, sondern für Reto Müller entschied. 

Auch in den Kommissionen sind Frauen schlecht vertreten. Zu reden gab dabei in der Vergangenheit die nichtständige Kommission für die Revision des Wahl – und Abstimmungsreglements. In dieser wichtigen und wegweisenden Kommission war keine einzige Frau zu finden. Auch die SP stellte zwei Männer. Darauf angesprochen meint Saima: „Dafür wurden wir auch kritisiert. Nur wollten die Frauen nicht, manche aus Zeitgründen, andere weil es zwar ein wichtiges, aber sehr trockenes Geschäft ist.“ Das sei wiederum die Kehrseite der Medaille. Oft überliessen Frauen die Schlüsselrollen widerspruchslos den Männern, weil sie sich in finanziellen und rechtlichen Fragen zu unsicher fühlen. 

Haben die Langenthalerinnen denn realisiert, dass sie in der Stadtpolitik schlecht vertreten sind? Am Frauenstreiktag gingen 500 Frauen in Langenthal auf die Strasse. Ein Zeichen für Veränderung? Saima hofft es auf jeden Fall. Sie selbst wies in ihrer Rede auf den niedrigen Frauenanteil in Parlament und Exekutive hin. „Ich glaube, da ist bei vielen der Groschen gefallen.“ 

Saima wünscht sich mehr Frauen in der Politik, wobei sie unterscheidet, zwischen Frauen, die politisieren und Frauen, die Politik für Frauen machen. Letzteres bedeutet für sie, sich stark machen für Tagesschulangebote und für auswärtige Kinderbetreuung. „Generell Familienpolitik, weil sie sich zwangsläufig mehr damit beschäftigen.“ Aber auch öffentliche Sicherheit sei ein Thema, mit dem sich Frauen leider oft verstärkt auseinandersetzen müssen, denn sie haben das wesentlich höhere Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden. 

Was muss Langenthal denn tun, damit mehr Frauen in die Politik einsteigen und sie aktiv mitgestalten? Saima nennt gleich ein ganzes Bündel an Vorschlägen. „Es geht ja nicht nur darum, Frauen in die Politik zu bringen, es geht ganz allgemein darum, Menschen in die Politik zu bringen. Dazu muss man die Stadtpolitik ins rechte (bzw. lieber linke) Licht rücken. Die Stadt sollte Medienmitteilungen schreiben, die Bevölkerung aufrufen, zu kandidieren, immer wieder darauf aufmerksam machen, dass Stadtratssitzungen öffentlich sind.“ Aber auch die Schulen nimmt Saima in die Verantwortung. „Es braucht mehr politische Bildung. Warum nicht mal ein paar Stadträte und Stadträtinnen in die Schule einladen?“ 

Und dann brauche es Quoten für den Stadtrat, den Gemeinderat und die Kommissionen. Aber auch die Wichtigkeit von der gendergerechten Sprache, also eine Sprache, die sich auf alle möglichen Geschlechter bezieht, statt nur die maskuline Form zu verwenden, streicht sie hervor. Durch ihr Studium ist ihr die Macht der Formulierung bewusst geworden. Der viel geäusserten Argumentation, dass mit dem Maskulinum die weibliche Form natürlich mitgemeint sei, kann Saima nicht viel abgewinnen. „Stell dir vor, es wäre umgekehrt und wir würden nur die weibliche Form verwenden. Das würden die Männer auch nicht witzig finden!“

Auf die Frage, was sie einer Newcomerin auf den Weg geben würde, lacht sie. „Hey, ich wünsche mir, dass mir jemand Tipps gibt, ich bin schliesslich auch Anfängerin. Das was ich die letzten Jahre im Vorstand gemacht habe, unterscheidet sich nicht von anderer Vereinsarbeit.“ Wieder kommt sie auf die politische Bildung in der Familie zu sprechen. „Zeitung lesen ist auch wichtig. Sich informieren, auf dem Laufenden bleiben.“ Ausserdem bedauert sie, dass junge Menschen vor dem 18. Lebensjahr nicht politisch mitdenken dürfen, weil ihnen das Wahl – und Stimmrecht verwehrt ist. Das hat auch Folgen für den dringend benötigten Nachwuchs. Oft seien die jungen Menschen beim Erreichen der Volljährigkeit schon an so vielen Orten engagiert, dass schlichtweg die Zeit fehlt, auch noch in einer Partei mitzuwirken. 

Saima ist inzwischen bekannt dafür, sich in Geschlechterfragen zu äussern und sich für Frauenrechte stark zu machen. Das bedeutet für sie auch einen inneren Zwiespalt. „Eigentlich will ich gar nicht über Frau/Mann reden, weil es keine Rolle spielen soll. Für mich spielt es auch keine Rolle. Aber weil es eben immer noch eine Rolle spielt, ob du eine Frau oder ein Mann bist, müssen wir darüber reden“, beschreibt sie ihr Dilemma. 

Und was können die Frauen selbst tun? Auch da weiss Saima Rat.  „Froue müesse eifach ou de Finger usem Arsch näh!“

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