Dienstag, 29. September 2020

Demokratie unter Druck

 

Die Demokratie ist ein unumstösslicher Stützpfeiler der Schweiz. Hand in Hand mit der Meinungsfreiheit und dem Initiativrecht sorgt sie dafür, dass der einfache Mensch aus dem Volk in der Lage ist, echte Veränderung nicht nur herbeizuwünschen, sondern auch aktiv herbeizuführen. Damit unterscheidet sich die Schweiz auch elementar von Nachbarland Deutschland, in dem die Bevölkerung zwar wählen darf, aber eben nicht abstimmen, weshalb die Politiker*innen die Stimmung und den Willen der Menschen oft getrost ignorieren – es sei denn, es ist gerade ein Wahljahr.

Und trotz dieser beobachte ich mit Sorge, dass die direkte Demokratie in der Schweiz zunehmend nicht mehr als Errungenschaft verstanden wird, sondern als störend, nervenaufreibend und schwerfällig verschrien wird. Was mich besonders schmerzt: Auch auf linker Seite gerät der Einbezug des Volkes und die Akzeptanz der Mehrheit unter Druck. Wäre es nicht besser, so der Grundtenor mancher Stimme, wenn sich Experten – und Expertinnen* um die schwierigen Herausforderungen der heutigen Zeit wie Corona oder den Klimawandel kümmern würden, statt sich stets um die demokratische Legitimierung eines Volkes bemühen zu müssen, dass in den Themen viel weniger Bescheid weiss und den Ernst der Lage möglicherweise nicht begreifen?

Die Sehnsucht der Menschen nach starken Anführern – oder Anführerinnen*, die uns genau sagen, was wir zu tun haben, war wohl in der Schweiz noch selten so stark vorhanden wie jetzt, wo die Pandemie unser Sicherheitsgefühl massiv beeinträchtigt hat. Und dann ist ja noch der Klimawandel, der eine ebenso reale Gefahr für uns darstellt. Letztere Sorge treibt die Jugend auf die Strasse. Und die wird zunehmend ungeduldig. Vom Scheitern der Parlamentarismus ist da die Rede. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, besetzte der Schweizer Ableger der Klimabewegung verbotenerweise den Bundesplatz und weigerte sich standhaft, ihn wieder zu verlassen. Ziviler Ungehorsam heisst das Mittel, zu dem die desillusionierte Jugend greift.

Der Frust der Klimabewegung ist nachvollziehbar. Die Mühlen der Demokratie, sie mahlen langsam. Zu langsam um dem Klimawandel schnell genug etwas entgegenzusetzen, so die Kritik der Jugendlichen. Damit haben sie zwar nicht ganz Unrecht. Allerdings übersehen sie damit ihre eigenen Erfolge. Durch ihren breiten Protest ist es ihnen gelungen, das Thema Umweltschutz bis weit in die Mitte zu verankern. Die konservativ geprägte FDP vollführte eine Kehrtwendung. Und selbst in der SVP, die bis jetzt das Thema Klimawandel mit fast blinder Sturheit als eine Art Running Gag betrachtet hat, werden Stimmen laut, sich endlich mit der Realität auseinanderzusetzen. Die Stärkung der grün geprägten Parteien im Parlament wird ebenfalls Früchte tragen. Dazu kommen Umweltverbände, die es zunehmend besser verstehen, Abstimmungen zu prägen und gar zu gewinnen. Ich denke, so schlecht sieht es in der Schweiz in Sachen wirksamen Klimaschutz nicht aus. Der Weg ist noch lang, aber zumindest hat man ihn in Angriff genommen.

Der Klimajugend hat es lange vermieden, sich allzu sehr als linke Bewegung zu deklarieren. Das hat sich geändert. Die Forderung nach einem Systemwandel wird zunehmend in den Vordergrund gestellt. Ich teile diese Überzeugung, einfach weil ich der Meinung bin, dass der Kapitalismus mit seiner ständigen Gier nach möglichst viel Profit, sich schlecht verträgt mit einem schonenden Umgang mit Mutter Erde. Eine Weiterentwicklung der Demokratie, wie sie der Klimajugend vorschwebt, ist daher begrüssenswert. Was ich aber eher kritisch sehe ist der ständige Verweis, man solle das demokratische Mitspracherecht quasi an eine Expertenmeinung koppeln, damit die „richtigen“ Entscheidungen getroffen werden. Corona hat uns ja eindrücklich bewiesen, dass auch Fachpersonen durchaus nicht einer Meinung sein müssen und nicht zwingend an einem Strang ziehen. Und auch Experten – und Expertinnen* sind nicht gefeit vor Ehrgeiz, Einflussnahme oder persönlichem Machtansprüchen.

Aber ich sehe noch ein anderes Problem: Es ist heikel, wenn eine gebildete und akademisch geprägte Schicht über die Köpfe der einfachen Leute entscheidet, wie die Zukunft auszusehen hat. Wenn Menschen das Gefühl haben, abgehängt und nicht gehört zu werden, besteht die Gefahr einer sozialen Spaltung. Es erhöht auch die Anfälligkeit für extremistisches Gedankengut. Gerade rechtsnationalistische Parteien haben ein gutes Gespür dafür, die Unsicherheit der Menschen auszunutzen und für ihre Zwecke zu missbrauchen.

Ich wehre mich gegen den zunehmenden Reflex mancher Linken, Menschen per se als dumm zu verurteilen, wenn sie dem Thema Klimawandel nicht genügend Aufmerksamkeit schenken. Damit ignoriert man die Tatsache, dass es auch in der Schweiz Leute gibt, die unter dem Existenzminimum leben und ausschliesslich mit Überleben beschäftigt sind. Der alleinerziehenden Mutter, die ihr Geld in einem unterbezahlten Putzfrauenjob verdient, vorzuwerfen, dass sie billiges Fleisch kauft, kann nicht der Weg sein. Wenn die Klimapolitik dazu führt, dass die kleinen Leute dafür bezahlen müssen, dass die reichen Leute ihren Lebensstandard weiter halten können, dann wird es keinen Wandel geben, sondern nur neue Ungerechtigkeit.

Deshalb muss der Wandel MIT den Leuten stattfinden. Das können wiederum können wir nur erreichen mit mehr Demokratie und nicht mit weniger. Wenn wir einen Grossteil der Bevölkerung einfach ignorieren und ihnen vorschreiben wollen, was sie zu tun und wie sie zu leben haben, ohne zumindest zu versuchen, sie zu erreichen, was unterscheidet uns dann von Kräften, die finden, man müsse auf die Schwächeren keine Rücksicht nehmen? Das hehre Ziel?

Wenn ich höre wie SP - Nationalrätin Jacqueline Badran den Medien vorwirft, sie würden falsch berichten, weil sie den Argumenten der Jugendlichen zu wenig Aufmerksamkeit schenken würde, dann beunruhigt mich das aus mehreren Gründen. Zum einen, weil es einfach nicht stimmt. In den letzten zwei Jahren haben sich die Journalisten – und Journalistinnen* sehr wohl ausführlich mit der Klimajugend beschäftigt und ihre Anliegen ernstgenommen und honoriert. Zum anderen, weil es schlichtweg nicht Sache der Politik ist, zu entscheiden, wie die Medien berichten sollen. Wenn wir wirklich eine freie Berichterstattung wollen, müssen wir aufhören die Presse ständig in die Pflicht nehmen zu wollen, unseren Verbündeten zu spielen. Und vor allem sollten wir damit aufhören, ihnen ständig die berufliche Kompetenz abzusprechen, wenn sie nicht so berichten, wie wir uns das wünschen. Oder wenn sie Leute in Fernsehsendungen einladen, die uns nicht sympathisch sind.

Am Schlimmsten finde ich, dass dabei zunehmend Argumente geäussert werden à la: Diese Person hat eine andere Meinung zu diesem Thema und das verunsichert die Menschen nur, deshalb sollte man ihm oder ihr gar keine Plattform geben. Das empfinde ich, mit Verlaub, als bevormundend. Man kann  den Leuten durchaus zutrauen, sich selbst eine Meinung zu bilden. Wie sollen wir denn sonst zu einer demokratischeren Gesellschaft werden, wenn wir gleichzeitig der Bevölkerung jeden Funken eigenständiges Denken absprechen?

Die Demokratie ist ein unumstösslicher Stützpfeiler der Schweiz, den es zu bewahren gilt. Es ist wichtig und lobenswert, die Demokratie zu erweitern und zu öffnen. Aber es ist falsch, sie zu einem System wandeln zu wollen, das alleine von einer gebildeten Elite genutzt werden kann. Damit laufen wir in Gefahr, dass sich die Demokratie in ihre böse Schwester verwandelt.

Die heisst Diktatur.

Montag, 14. September 2020

Das andere Stadtratsprotokoll XVI

Ich denke, der Stadtrat hätte viel mehr Publikum, wenn die Fraktionen ihre Differenzen in Zukunft durch Tanzbattles austragen würden. Wirklich, ich stelle mir das mega cool vor. Alle tragen stylische Hüfthosen, bauchfreie Tops (oder im Fall der Männer eng anliegende Achselshirts) und schräg sitzende, viel zu grosse Kappen. Ausserdem könnten sich die Parteien dann endlich coole Namen zulegen. Z. B „die rote Piratencrew“ (SP) „die juristischen Samurai“ (FDP), „die Schreckgespenster der Verwaltung (SVP)“, „die hüpfenden Sonnenblumen“ (Grüne/GLP) und  „die lächelnden Gottesanbeter“ (EVP). Kommt schon, gebt zu, dass die Idee genial ist (und sie hat überhaupt nichts damit zu tun, dass ich mir gerade alle Step up Filme reinziehe…).

Okay, gut wegen des Verletzungsrisikos ist es vielleicht besser, wenn der Stadtrat weiter so tagt, wie er eben tagt. Das heisst: Alle sitzen brav an ihrem Pult, kämpfen mit klugen Worten statt mit akrobatischen Einlagen (wobei, wie wäre es mit Laserschwertern à la Star Wars?) und tragen ordentliche Kleidung statt zerfetzten Jeans (gibt’s eigentlich eine Kleiderordnung im Stadtrat?). Aber man sollte ja offen sein für Veränderungen, nicht wahr?

Wobei der Stadtrat in diesem Jahr seine Veränderungsbereitschaft bereits zu Genüge unter Beweis stellen musste. Wegen der Coronaauflagen wurden die Herren und Damen Stadträte aus ihrem vertrauten Heim der Alten Mühle verjagt, die hufeisenförmige Sitzordnung ging flöten und die Pausen wurden aufgrund des organisatorischen Aufwandes gestrichen. Fast könnte man meinen, das Jahr 2020 hätte beschlossen, es dem Stadtrat so schwer wie möglich zu machen, denn durch den Ausfall von Sitzungen kam es auch zu einem Stau der Geschäften, weshalb noch eine zusätzliche Sitzung einberufen werden musste.

Nicht wegen Corona, aber aus personellen Gründen wechselt jetzt auch noch das Stadtratspräsidium. Martina Moser (SP) rückt für den scheidenden Pierre Masson (SP) in den Gemeinderat nach und da sie als Mitglied der Exekutive nicht mehr den Vorsitz der Legislative innehalten kann (beachtet bitte meinen inflationär kompetent eingesetzten Fachwortschatz), musste als erstes eine Nachfolge bestimmt werden. Die SP/GL Fraktion nominierte Paul Bayard (SP) sowohl als Stadtratspräsident als auch für den frei werdenden Sitz in der GPK (wenn ihr mehr über Paul wissen wollt: da hat jemand ein interessantes Porträt über ihn geschrieben…huch, das war ja ich…)

Die anderen Parteien zeigten sich mit der Nomination einverstanden (Zitat Beatrice Lüthi aus der FDP Fraktion: Mir hei nüt gäge Paul Bayard) und wählten den erfahrenen Stadtrat einstimmig in die beiden Ämter. Damit übernimmt er die Leitung des Stadtrats ab Oktober bis Dezember. Dabei tritt er in grosse Fussstapfen. „Ich hoffe, dass ich das Amt zumindest annährend so gut ausfüllen kann, wie es  Martina Moser und Patrick Freudiger getan haben“, erklärte Paul Bayard. Sein zukünftiger Vize Paul Beyeler (EVP) wünschte ihm dann auch, dass die zukünftigen Monate etwas ruhiger werden, als es die vergangenen gewesen sind (Paul Bayard und Paul Beyer…also für die schreibende Zunft ist die Konstellation eher ungünstig. Das provoziert ja geradezu Verwechslungen.)

Nachdem das Traktandum  „Wahlen“ also erfreulich schnell abgehakt worden war (Wahlen im Stadtrat sind was Feines, die gehen nämlich meistens sauber und rasant über die Bühne, weil sie nie zu Diskussionen führen) ging es im ähnlichen Tempo weiter. Es ging um die Vergabe des Auftrags für die externe Prüfung der Rechnungsablage der Stadt (hey, ich denke mir diese Traktanden nicht aus). Da diese Aufgabe schon letztes Jahr durch die PricewaterhousseCoopers AG Bern (wieso hat eine Firma in Bern eigentlich einen englischen Namen?) übernommen wurde, sollen die es auch dieses Jahr richten. Dieser Meinung ist zumindest der Gemeinderat und der Stadtrat schloss sich ihm fast einstimmig an.

Diese fast schon beängstigende – und ungewohnte – Harmonie zog sich auch bis ins nächste Traktandum. Ich gebe zu, also ich die Traktandenliste durchsah und „2. Lesung Behördenreglement“ las, war ich kurz davor aus Verzweiflung meinen Kopf auf die Tischplatte zu knallen. Doch zum Glück ging es bei dieser Lesung nur um zwei Punkte und nicht um gefühlt hundert Neuanträge. Zum einen hatte der Stadtrat in der ersten Lesung eine schwer verständliche Tabelle bemängelt, zum anderen fand eine Mehrheit der Legislative, dass das Amtsgeheimnis bzw. die Schweigepflicht zu scharf definiert wird. Das führte in der Vergangenheit oft dazu, dass Kommissionsmitglieder ihren Fraktionen gegenüber keine klaren Auskünfte geben durften, was wiederum die Konsequenz hatte, dass der Stadtrat immer wieder von gewissen Wendungen in den Geschäften überrumpelt wurde.

Rundum zufrieden mit dem vom Gemeinderat nun weicher gestalteten Amtsgeheimnis zeigte sich im Namen der FDP/JLL Fraktion Diego Clavadetscher. Das sei gut für die politische Kultur, befand er gutgelaunt und führe zu mehr politischer Effizienz. Nicht zuletzt könnten damit die gefürchteten 2. Lesungen verhindert werden, weil Fragen schon im Vorfeld geklärt werden könnte (wer hat Angst vor der 2. Lesung?).

Diese Euphorie nicht so ganz teilen konnte Saima Sägesser (SP). Ihre Fraktion sieht die Lockerung der Schweigepflicht und die damit verbundene verstärkte Kommunikation zwischen Kommission und Partei eher kritisch. Anträge mochten sie allerdings keine stellen und weil auch die SVP es, laut Fraktionssprecher Janosch Fankhauser, begrüsst, mehr miteinander reden zu können, konnte die 2. Lesung erfolgreich abgeschlossen werden.

Nebenbei schrieb man mit der Erledigung dieses Geschäfts auch noch eine Motion von Pierre Masson (SP) ab, die er, damals noch als Stadtrat eingereicht hat. Die Motion verlangte die Erhöhung der Sitzungsgelder und dieses Begehren wird mit dem Einsetzen des neuen Behördenreglements erfüllt. Ist das nicht irgendwie eine schöne Symbolik, dass sich an Pierre Massons letzter Stadtratssitzung dieser Kreis schliesst? („Und im ewigen Kreis, dreht sich unser Leben…“) Und wir haben jetzt tatsächlich ein neues Behördenreglement *Konfetti schmeiss*. Und dagegen wurde auch kein Einspruch erhoben. Ist das Leben nicht schön?

Nach diesem Motto scheint neu auch Corinna Grossenbacher (SVP) zu leben. Nachdem sie das letzte Mal ja so gar nicht zufrieden war mit dem Gemeinderat und ihn wegen des Budgets ziemlich zusammengefaltet hat, war sie dieses Mal voll des Lobes für ihn. Grund für ihre Lobeshymne war die schnelle Umsetzung der Motion Verkehrsführung Elzmatte. Nachdem Grossenbacher und ihre Mitstreiter*innen über die mangelnde Schulwegsicherheit im Gebiet Elzmatte geklagt und eine entsprechende Motion eingereicht hatte, wurde der Gemeinderat schnell aktiv und konnte das Problem entschärfen (was meine Theorie bestätigt, dass es in der Politik meist schnell geht, wenn es um Kinder geht. Oder um Tiere. Vorausgesetzt erstere tragen keine ausländischen Namen und letztere fressen keine Schäfchen.)  Corinna Grossenbacher fand die Umsetzung der Motion auf jeden Fall eine rundum gefreute Sache. „Wir wünschten uns, dass die Geschäfte immer so leicht über den Tisch gingen“, konnte sie sich dann einen kleinen Seitenhieb doch nicht verkneifen.

Nach diesem „Eitel Sonnenschein“ Traktandum hatte Bald Alt – Gemeinderat Pierre Masson noch einmal Gelegenheit zum Stadtrat zu sprechen. Er bat um eine Firstverlängerung, sowohl bei der Motion „Total Cost of Ownership“ (Abrechnungsverfahren), als auch bei der Motion „ökologische Fahrzeugbeschaffung“. Bei beiden Geschäften braucht es zusätzliche Abklärungen, die sich – man ahnt es – durch Corona verzögern. Der Stadtrat bewilligte diese Fristverlängerung ohne Murren.

Wesentlich dramatischer wertet der Stadtrat schon seit längerem den Stau bei den Baugesuchten. Durch personelle Wechsel bzw. durch Stellen, die nicht besetzt werden konnten, ist der Rückstand inzwischen so gross, dass sich die Bewilligung der Gesuche immer weiter hinauszögert. Die SVP – Fraktion schlug deshalb in ihrer Motion vor, dass auch weniger qualifizierte Mitarbeitende (kaufmännische Angestellte) im Bauamt gewisse Kompetenzen erhalten sollen, dass die Baugesuche in drei Kategorien aufgeteilt werden und nicht  zwingend in der Reihenfolge der Eingabe behandelt werden müssen. Diese Massnahmen wären aber nur vorübergehend, bis sich eine dauerhafte Lösung anbietet. Der Gemeinderat wandte in schriftlicher Form ein, dass KV – Leute nicht für diese Aufgaben ausgebildet wurden und dass eine Änderung der Struktur bereits in Planung ist bzw. zum Teil schon umgesetzt wurde.

Der Sprecher für die Motion Stefan Grossenbacher (SVP) führte in seinem Votum aus, warum eine Lösung hermuss. So sei es zurzeit zum Beispiel schwer, ein Ladenlokal zu erwerben oder umzubauen, weil die Bewilligungen so lange auf sich warten liessen (böse Zungen behaupten, dass in der Zeit sogar ein ganzer Affenbrotbaum wachsen könnte). Damit könnte man mit anderen Städten auch kaum mithalten. Stefan Grossenbacher nahm die Baubehörde mit durchaus harschen Worten ins Gebet. Er bemängelte vor allem, dass „immer alles weitergeschoben wird und niemand Entscheidungen treffen will“. Ausserdem spüre er keinen Willen zur Veränderungen; dass Personal sei  teilweise wohl „zu alt“ oder „zu träge“. Auch mit der Chefetage zeigte er sich unzufrieden. „Gutes Personal braucht gute Führung“, schloss er seine Stellungnahme.

(Kleine Anmerkung meinerseits: Es ist ja schon noch spannend, dass die SVP zwar immer in der Verwaltung sparen will, aber trotzdem eine meisterliche Performance des städtischen Personals erwartet. Man soll also mit weniger Leuten viel mehr leisten. Man will auch die am besten qualifizierten Arbeitnehmer*innen, aber die sollen halt keine hohen Lohnansprüche stellen. Wie soll das aufgehen? Das ist, als würde ich von einem Pony verlangen, es soll bitteschön wie ein Pegasus fliegen und Regenbogen kacken.)

Dass die Zustände im Bauamt allerdings nicht zufriedenstellend sind, räumte auch Stadtpräsident Reto Müller (SP) ein. Er wisse, dass die Geduld der Leute langsam ein Ende habe und der Stau sei auch nicht gewollt gewesen (ich will den Papierstau auch nie, aber mein Drucker produziert ihn trotzdem ständig). Man sei aber auf einen guten Weg, betonte Müller (bald dauert es nur noch einen halben Affenbrotbaum, bis man eine Baubewilligung in der Tasche hat). Die Motion der SVP wurde in ein Postulat umgewandelt und als erheblich erklärt.

Genau wie das Postulat von Carole Howald (JLL). Die Stadträtin forderte die Prüfung von mehr CivicTech im Bereich der politischen Mitwirkung in Langenthal. Mit CivicTech sind technische Hilfsmittel gemeint. Besonders im Bereich der Digitalisierung hat Langenthal laut Howald einiges nachzuholen, zumal Corona aufgezeigt hat, dass die Stadt politisch quasi brachliegt, wenn die üblichen analogen Wege nicht funktionieren. Der Gemeinderat sieht das ähnlich und will das Potential weiter ausloten (wenn wir gerade von politischer Partizipation reden: Wie wäre es mit einem Livestream? Dann könnte man die Sitzungen auch von zuhause aus verfolgen. In Unterhosen und mit Popcorn. Also, das Popcorn würde ich natürlich nicht tragen, sondern essen.)

Dann kam das eigentliche Herzstück der Stadtratssitzung: Die Rückübertragung der Alten Mühle ins städtische Eigentum. Die Alte Mühle ist auch eine dieser unendlichen Geschichten aus Langenthal (genau wie das Stadion und die Porzi). Sie taucht immer mal wieder in Stadtratsdebatten auf, wird gerne in Schnitzelbanken thematisiert und sorgt seit Jahren für hitzige Debatten, weil zwar fast alle irgendeine Idee für das Areal haben, die Umsetzung dieser Einfälle aber immer scheitert.

Mr. Powerpoint, Gemeinderat Robero Di Nino (den ich übrigens in zahlreichen Stadtratsprotokollen als Roberto DE Nino  bezeichnet habe. Hoppala), erzählte dann auch gleich die lange Geschichte rund um das Gelände. Vor vierzig Jahre war für das Mühleareal eine Überbauung geplant worden. Diese war der Bevölkerung aber zu aufgeblasen und sie wehrten sich mithilfe einer Unterschriftensammlung. Daraufhin krebste man zurück: Die Überbauung wurde redimensioniert (auf Deutsch: es wurden kleinere Brötchen gebacken.) Es kam zur Umzonung, die Stadt erwarb die Parzellen und die Idee einer Stiftung entstand (geht es nur mir so, oder ähnelt die Geschichte wahnsinnig den aktuellen Geschehnissen rund um die Porzi? Ich meine, Überbauung, die viel zu ambitioniert ist, Widerstand der Bevölkerung, Umzonung, die durchs‘ Volk muss…Das ist wie ein Déjà-vu. Gruselig.)

Die Stiftung wurde mit der Auflage gegründet, die Renovierung der Alten Mühle voranzutreiben. Das Eigentum wurde von der Stadt auf die Stiftung übertagen. Zusätzlich gewährte die Stadt der Alten Mühle Stiftung ein Darlehen und tatsächlich sah das Gebäude danach wunderhübsch aus (mit Ausnahme des Silos. Das blieb hässlich. Und ist es immer noch). Genutzt wurde es als „Design Center mit öffentlicher Nutzung“, bevor es dann zu einem Gastronomiebetrieb umgewandelt wurde, wobei die Räume den Langenthaler Vereinen und Parteien kostenlos zur Verfügung standen.  Während dieses Konzept mit dem ersten Pächter aufging, scheiterte dessen Nachfolger 2013. Seitdem stand die Mühle lange Zeit leer, bis schliesslich letzthin zumindest eine Übergangslösung gefunden werden konnte. Die Haslibrunnen AG mietet die Alte Mühle AG für die Dauer ihres Umbaus, weil sie so ihr Gastronomieangebot aufrechterhalten kann.

Vorläufiges Happy End könnte man sagen. Der Stiftungsrat, der grösstenteils aus Gemeinderatsmitgliedern besteht, hat beschlossen sich aufzulösen. Wer jetzt aber meint, damit sei das Ding gegessen und die Alte Mühle spaziere quasi mal einfach so ins städtische Eigentum zurück, der täuscht sich (wo kämen wir denn dahin, wenn es so einfach wäre). Die Stadt muss „Erstes Begehren“ (haben die das aus einem Jane Austen Roman?) äussern, also einen Stadtratsbeschluss fassen.

Eigentlich ist es ja so, dass der Stadtrat diesen Entschluss schon vorgefasst hat. Denn der Rückübertrag der Alten Mühle war ja schon fester Bestandteil der Erfolgsrechnung, die vor zwei Wochen genehmigt worden ist (wir erinnern uns, dank diesem Geldsegen fiel das Minus nicht ganz so grässlich aus). Es war daher keine Überraschung, dass der Rat diesem Geschäft wohlwollen gegenüberstand, zumal es auch Bewegung in die Affäre Alte Mühle bringt. Lediglich über die spätere Art der Nutzung (wenn die Haslibrunnen AG wieder weg ist), war man unterschiedlicher Auffassung. Während Diego Clavadetscher (FDP) die Funktion der Mühle als Tageszentrum in Frage stellte, verteidigte Parteigspännli Pascal Dietrich diese mit Händen und Füssen. Urs Zurlinden (FDP), der zu den ersten Stiftunsgräten gehört hatte, schwelgte in Erinnerungen an das Designcenter. Zwar bezweifle er, dass die Stadt mehr bewirken könne als ein Stiftungsrat, aber er warte schliesslich schon lange sehnsüchtig auf eine Nutzung der Alten Mühle und wolle deM Geschäft keine Steine in den Weg.

Schlussendlich folgte der Stadtrat dem Gemeinderat und winkte auch die Abstimmungsbotschaft ohne Änderungsanträge durch. Damit wäre ein neues Kapitel im Buch Alte Mühle geschrieben… aber es werden wohl auch noch ein paar dazukommen. Wir sind noch nicht am Ende, Leute! (Ich gebe meinen Disneylandplan nicht auf).  

Fast glaubte man sich bei Woodstock, so harmonisch war die Stadtratssitzung bis zu dem Zeitpunkt abgelaufen. Ja, man hatte gar irgendwie den Drang ein Tamburin hervorzuholen und „Ein bisschen Frieden“ zu trällern, so schön war es. Aber da zogen dunkle Wolken auf…und die Ursache davon waren kein Joints, sondern eine Motion des juristischen Trio Infernale Diego Clavadetscher (FDP), Paul Beyeler (EVP) und Patrick Freudiger (SVP), die sich um die Führung der mehrheitlich von der Stadt geführten Gesellschaften drehte.

Ehrlich gesagt fiel es mir als Nichtjuristin extrem schwer der Diskussion zu folgen (und ja, ich musste während der Beratung leider kurz aufs Klo. Lamas haben eben auch natürliche Bedürfnisse). Und als ich zurückkam, war von der Blumenstimmung nicht mehr viel zu spüren (da lass ich euch mal alleine und schon eskaliert es). Im Grunde ging es glaub darum, dass der Gemeinderat in Person von Stapi Reto Müller (SP), der Auffassung war, dass eine Annahme der Motion, so wie sie die Antragssteller formuliert hatten, zu einer Änderung der Stadtverfassung und damit zu einer Volksabstimmung führen würde. Diego Clavadetscher war aber anderer Meinung und so entstand ein etwas verwirrendes Rededuell, bei dem keine der beiden Seiten wirklich verstehen konnte, was die andere meinte. Diego Clavadetscher wirkte danach eine Spur genervt, das Stadtratsbüro irritiert und Reto Müller ratlos. Der Stadtrat folgte dann zum Grossteil den Motionären.

Nach diesen juristischen Exkursen folgte ein Auftritt der Amazonen. Elf Stadträtinnen haben sich parteiübergreifend zusammengeschlossen (Go Girls!) und vom Gemeinderat die Unterzeichnung der sogenannten Charta Lohngleichheit gefordert. Damit würde sich die Stadt zur Gleichheit der Geschlechter bekennen, erklärte Saima Sägesser in gewohnt temperamentvoller Weise und für ein modernes, faires Langenthal einstehen. Wie schon der Gemeinderat, zeigte sich auch der Stadtrat von der Idee angetan. Fast einstimmig wurde die Unterzeichnung der Charta beschlossen (vielleicht hatten die Männer aber auch einfach nur Angst, dass die Mädels sonst ihre Bögen herausholen und ihnen Pfeile in den A……. schiessen.)

Geschlossen zeigten sich die Ladys auch bei der Interpellation betreffend Lohngleichheit bei der Stadt Langenthal. Der Gemeinderat versicherte, dass Thema auf den Schirm zu haben und entsprechende Kontrollen zu erheben. Beatrice Lüthi (FDP) nahm das durchaus wohlwollend zur Kenntnis. „Mir blibe drann“, erklärte sie – und man weiss nicht recht, ob es ein Versprechen oder eine Warnung war.

Als Baumritter entpuppte sich erneut Pascal Dietrich (FDP), der sich mit Mitmotionären besorgt über die starke Abholzung entlang der Langete zeigte. Die Argumentation des Gemeinderats, dass der Hochwasserschutz – bei dem die Stadt offenbar Mitglied ist - diese Rodungen aufgrund Sicherheitsbedenken vornimmt, überzeugte ihn nicht. Er ärgerte sich darüber, statt klaren Antworten lediglich Abhandlungen über Neophyten erhalten zu haben. „Au mir bliibe dra“, verkündete er unheilvoll. Tja. Wenn bald Ents das Verwaltungsgebäude auseinanderrupfen, weil man ihren Lebensraum kaputt gemacht hat, weiss ich, wer sie gerufen hat.

Und dann hiess es Abschied nehmen. Paul Beyeler (EVP) fand warme Worte für Martina Moser (SP). Sie habe ihre Qualitäten in diesem schwierigen Jahr unter Beweis stellen können und der Rat habe von ihrer Besonnenheit profitiert, fasste er zusammen. Als Dankeschön gab es einen Blumenstrauss.

Martina Moser hielt ihrerseits die Laudatio für Pierre Masson, dessen politische Laufbahn in Langenthal nun endet. Kein Polteri sei er gewesen, sondern einer, der sich offen gegenüber Einwänden gezeigt habe, bilanzierte Martina Moser, die zwar Massons Sitz, aber nicht sein Ressort übernimmt. Sie wird das Sozialressort übernehmen (wenn ich mir eine persönliche Einschätzung erlauben darf: Ich glaube, dass Martina unaufgeregte, feinfühlige Art ein Gewinn für den Gemeinderat ist, gerade was die Kommunikation betrifft).

„Es scheint irgendwo das Motto meines Lebens zu sein, dass nichts so kommt, wie ich es mir ausmale“, schloss Martina Moser, die dieses ungewöhnliche Jahr nun auch aussergewöhnlich abschliesst. Statt im Dezember läutete sie nun im September das Glöckchen und beendete so ihre letzte Stadtratssitzung als Mitglied der Legislative.

 

Sonstiges:

Saima Sägesser kämpft mit dem Mikrofon. Weil sie eher klein ist und sich nicht recht traute die Mikrofone anzufassen, musste sie kurz Ballerina spielen und auf die Zehenspitzen gehen. Zum Glück durfte es dann doch noch verstellen.

Die Stimmenzähler kamen etwas ins Schwitzen, weil die Stadträte – und Stadträtinnen sehr „läufig“ waren. Grund dafür waren neben Toilettengänge auch die Suche nach Kaffee und die zur Verfügung gestellten Sandwichs, die sich grosser Beliebtheit erfreuten. So verlor das arme Stadtratsbüro schon mal den Überblick ob jetzt 33, 34 oder 35 Ratsmitglieder anwesend waren.

Roland Loser (SP) neigt dazu, mit der Stimmkarte zu wedeln. Ob er damit seiner Haltung Nachdruck verleihen will oder es sich um eine raffinierte Methode handelt, die Arme zu trainieren, bleibt wohl sein Geheimnis.

Best of

„Wir befürchten Zustände wie im Mittelalter, wo böse Menschen den Herrschenden dumme Dinge einflüsterten.“ Saima Sägesser (SP) fürchtet eine Wiederholung der Geschichte. So lange die Hexenverbrennung nicht ebenfalls ein Revival erleben…

„Ich habe leider nicht mehr viel Möglichkeit am Mikrofon zu reden, deshalb will ich sie nutzen.“ Pierre Masson (SP) wird kurz sentimental. Vielleicht darf er ja ein Mikrofon als Andenken mitnehmen.

„Wenn der Stapi mit dem Laptop zum Mikrofon geht, wurde ja doch was von Digitalisierung verstanden.“ Carole Howald (JLL) lobt den Stapi für sein technisches Geschick, den Computer von A nach B zu tragen.

„Es ist ja ein historisches Gebäude, darum haben wir uns um die Geschichte bemüht.“ Auch Pascal Dietrich (FDP) reist in die Vergangenheit. Ja, ja die Müller von früher hätten sich wohl nie träumen lassen, dass aus ihrer Mühle mal ein Designcenter wird. Sie wussten wahrscheinlich nicht mal, was ein Designcenter ist.

„Wenn wir schon einen Müller als Stadtpräsidenten haben, soll die Mühle auch zur Stadt kommen.“ Wieder Pascal Dietrich, der Reto Müller damit fast schon eine Umschulung nahe legt.

„Ich verstehe in meinem Alltag Ausstandspflicht anders – wenn jemand aufs Klo muss, wird darüber nicht abgestimmt.“ Daniel Böser (SVP), Lehrer und Schulleiter, berichtet über die kleinen Freuden seines Jobs.

„Es wird eine Lösung gewünscht!“ Die wünschen wir uns doch alle. Oder Diego Clavadetscher (FDP)?

„Ich bin Beatrice und ich rede nicht so verruckt lang.“ Mein Name ist Lüthi. Beatrice Lüthi, die kurz spricht!

„Das war nicht etwa eine Schweigeminute für die toten Bäume!“ Pascal Dietrich beweist erneut Sinn für dramatische Inszenierungen. Fehlt nur noch der Totenkopf in der Hand.

„Jetzt habt ihr alles schon in den Medien gelesen, aber ich muss es euch trotzdem noch erzählen, das steht so in der Stadtverfassung.“ Und die Stadtverfassung ist schliesslich Gesetz: Stapi Reto Müller nimmt’s genau.

„Der Stadtrat ist manchmal ein wenig stur.“ Paul Beyeler (EVP) zeigt sich selbstkritisch.

Das andere Stadtratsprotokoll - Die Ostern - Edition: Der (Fast) Liveticker zur Stadtratssitzung vom 25.3.2024

  Das Vorgeplänkel ·         Hallo und herzlich willkommen zum neuen exklusiven anderen Stadtratsprotokoll, geschrieben wie üblich von e...