Dienstag, 29. September 2020

Demokratie unter Druck

 

Die Demokratie ist ein unumstösslicher Stützpfeiler der Schweiz. Hand in Hand mit der Meinungsfreiheit und dem Initiativrecht sorgt sie dafür, dass der einfache Mensch aus dem Volk in der Lage ist, echte Veränderung nicht nur herbeizuwünschen, sondern auch aktiv herbeizuführen. Damit unterscheidet sich die Schweiz auch elementar von Nachbarland Deutschland, in dem die Bevölkerung zwar wählen darf, aber eben nicht abstimmen, weshalb die Politiker*innen die Stimmung und den Willen der Menschen oft getrost ignorieren – es sei denn, es ist gerade ein Wahljahr.

Und trotz dieser beobachte ich mit Sorge, dass die direkte Demokratie in der Schweiz zunehmend nicht mehr als Errungenschaft verstanden wird, sondern als störend, nervenaufreibend und schwerfällig verschrien wird. Was mich besonders schmerzt: Auch auf linker Seite gerät der Einbezug des Volkes und die Akzeptanz der Mehrheit unter Druck. Wäre es nicht besser, so der Grundtenor mancher Stimme, wenn sich Experten – und Expertinnen* um die schwierigen Herausforderungen der heutigen Zeit wie Corona oder den Klimawandel kümmern würden, statt sich stets um die demokratische Legitimierung eines Volkes bemühen zu müssen, dass in den Themen viel weniger Bescheid weiss und den Ernst der Lage möglicherweise nicht begreifen?

Die Sehnsucht der Menschen nach starken Anführern – oder Anführerinnen*, die uns genau sagen, was wir zu tun haben, war wohl in der Schweiz noch selten so stark vorhanden wie jetzt, wo die Pandemie unser Sicherheitsgefühl massiv beeinträchtigt hat. Und dann ist ja noch der Klimawandel, der eine ebenso reale Gefahr für uns darstellt. Letztere Sorge treibt die Jugend auf die Strasse. Und die wird zunehmend ungeduldig. Vom Scheitern der Parlamentarismus ist da die Rede. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, besetzte der Schweizer Ableger der Klimabewegung verbotenerweise den Bundesplatz und weigerte sich standhaft, ihn wieder zu verlassen. Ziviler Ungehorsam heisst das Mittel, zu dem die desillusionierte Jugend greift.

Der Frust der Klimabewegung ist nachvollziehbar. Die Mühlen der Demokratie, sie mahlen langsam. Zu langsam um dem Klimawandel schnell genug etwas entgegenzusetzen, so die Kritik der Jugendlichen. Damit haben sie zwar nicht ganz Unrecht. Allerdings übersehen sie damit ihre eigenen Erfolge. Durch ihren breiten Protest ist es ihnen gelungen, das Thema Umweltschutz bis weit in die Mitte zu verankern. Die konservativ geprägte FDP vollführte eine Kehrtwendung. Und selbst in der SVP, die bis jetzt das Thema Klimawandel mit fast blinder Sturheit als eine Art Running Gag betrachtet hat, werden Stimmen laut, sich endlich mit der Realität auseinanderzusetzen. Die Stärkung der grün geprägten Parteien im Parlament wird ebenfalls Früchte tragen. Dazu kommen Umweltverbände, die es zunehmend besser verstehen, Abstimmungen zu prägen und gar zu gewinnen. Ich denke, so schlecht sieht es in der Schweiz in Sachen wirksamen Klimaschutz nicht aus. Der Weg ist noch lang, aber zumindest hat man ihn in Angriff genommen.

Der Klimajugend hat es lange vermieden, sich allzu sehr als linke Bewegung zu deklarieren. Das hat sich geändert. Die Forderung nach einem Systemwandel wird zunehmend in den Vordergrund gestellt. Ich teile diese Überzeugung, einfach weil ich der Meinung bin, dass der Kapitalismus mit seiner ständigen Gier nach möglichst viel Profit, sich schlecht verträgt mit einem schonenden Umgang mit Mutter Erde. Eine Weiterentwicklung der Demokratie, wie sie der Klimajugend vorschwebt, ist daher begrüssenswert. Was ich aber eher kritisch sehe ist der ständige Verweis, man solle das demokratische Mitspracherecht quasi an eine Expertenmeinung koppeln, damit die „richtigen“ Entscheidungen getroffen werden. Corona hat uns ja eindrücklich bewiesen, dass auch Fachpersonen durchaus nicht einer Meinung sein müssen und nicht zwingend an einem Strang ziehen. Und auch Experten – und Expertinnen* sind nicht gefeit vor Ehrgeiz, Einflussnahme oder persönlichem Machtansprüchen.

Aber ich sehe noch ein anderes Problem: Es ist heikel, wenn eine gebildete und akademisch geprägte Schicht über die Köpfe der einfachen Leute entscheidet, wie die Zukunft auszusehen hat. Wenn Menschen das Gefühl haben, abgehängt und nicht gehört zu werden, besteht die Gefahr einer sozialen Spaltung. Es erhöht auch die Anfälligkeit für extremistisches Gedankengut. Gerade rechtsnationalistische Parteien haben ein gutes Gespür dafür, die Unsicherheit der Menschen auszunutzen und für ihre Zwecke zu missbrauchen.

Ich wehre mich gegen den zunehmenden Reflex mancher Linken, Menschen per se als dumm zu verurteilen, wenn sie dem Thema Klimawandel nicht genügend Aufmerksamkeit schenken. Damit ignoriert man die Tatsache, dass es auch in der Schweiz Leute gibt, die unter dem Existenzminimum leben und ausschliesslich mit Überleben beschäftigt sind. Der alleinerziehenden Mutter, die ihr Geld in einem unterbezahlten Putzfrauenjob verdient, vorzuwerfen, dass sie billiges Fleisch kauft, kann nicht der Weg sein. Wenn die Klimapolitik dazu führt, dass die kleinen Leute dafür bezahlen müssen, dass die reichen Leute ihren Lebensstandard weiter halten können, dann wird es keinen Wandel geben, sondern nur neue Ungerechtigkeit.

Deshalb muss der Wandel MIT den Leuten stattfinden. Das können wiederum können wir nur erreichen mit mehr Demokratie und nicht mit weniger. Wenn wir einen Grossteil der Bevölkerung einfach ignorieren und ihnen vorschreiben wollen, was sie zu tun und wie sie zu leben haben, ohne zumindest zu versuchen, sie zu erreichen, was unterscheidet uns dann von Kräften, die finden, man müsse auf die Schwächeren keine Rücksicht nehmen? Das hehre Ziel?

Wenn ich höre wie SP - Nationalrätin Jacqueline Badran den Medien vorwirft, sie würden falsch berichten, weil sie den Argumenten der Jugendlichen zu wenig Aufmerksamkeit schenken würde, dann beunruhigt mich das aus mehreren Gründen. Zum einen, weil es einfach nicht stimmt. In den letzten zwei Jahren haben sich die Journalisten – und Journalistinnen* sehr wohl ausführlich mit der Klimajugend beschäftigt und ihre Anliegen ernstgenommen und honoriert. Zum anderen, weil es schlichtweg nicht Sache der Politik ist, zu entscheiden, wie die Medien berichten sollen. Wenn wir wirklich eine freie Berichterstattung wollen, müssen wir aufhören die Presse ständig in die Pflicht nehmen zu wollen, unseren Verbündeten zu spielen. Und vor allem sollten wir damit aufhören, ihnen ständig die berufliche Kompetenz abzusprechen, wenn sie nicht so berichten, wie wir uns das wünschen. Oder wenn sie Leute in Fernsehsendungen einladen, die uns nicht sympathisch sind.

Am Schlimmsten finde ich, dass dabei zunehmend Argumente geäussert werden à la: Diese Person hat eine andere Meinung zu diesem Thema und das verunsichert die Menschen nur, deshalb sollte man ihm oder ihr gar keine Plattform geben. Das empfinde ich, mit Verlaub, als bevormundend. Man kann  den Leuten durchaus zutrauen, sich selbst eine Meinung zu bilden. Wie sollen wir denn sonst zu einer demokratischeren Gesellschaft werden, wenn wir gleichzeitig der Bevölkerung jeden Funken eigenständiges Denken absprechen?

Die Demokratie ist ein unumstösslicher Stützpfeiler der Schweiz, den es zu bewahren gilt. Es ist wichtig und lobenswert, die Demokratie zu erweitern und zu öffnen. Aber es ist falsch, sie zu einem System wandeln zu wollen, das alleine von einer gebildeten Elite genutzt werden kann. Damit laufen wir in Gefahr, dass sich die Demokratie in ihre böse Schwester verwandelt.

Die heisst Diktatur.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Das andere Stadtratsprotokoll: Die Film - Edition (der Fast - Liveticker zur Stadtratssitzung vom 29.04.2024)

Der Vorspann: ·         Herzlich willkommen zu unserem neuen Blockbuster «Spiel mir das Lied vom Stadtrat»! Wir wünschen Ihnen (und mit wi...