Zumindest frisurentechnisch hat er mit seinen
immer zerzausten blonden Haaren etwas von Boris Johnson, dem ehemaligen
britischen Aussenminister: Paul Bayard, 69 – jährig, Stadtrat von Langenthal.
Immer im Schuss, sprühend vor Elan, hartnäckig in der Verfolgung seiner Ideen,
dabei aber immer freundlich und umgänglich. So könnte man ihn beschreiben. In
der SP gehört er zu denjenigen, die frühmorgens aufstehen, um Wahlmaterial zu
verteilen, selbst dann wenn es bitterkalt ist oder in Strömen regnet. Mit dem
roten „Speedy, dem kleinen Auto, das die SP hin und wieder als Maulesel
benutzt, kurvt er genauso gekonnt um die Ecken,
wie mit seinem Fahrrad. Eine SP Langenthal ohne Paul? Schwer vorstellbar.
In seiner Wohnung hat man den schönsten
Ausblick von Langenthal, wie er stolz bemerkt. Die Stadt liegt ihm zu Füssen.
Und er kennt sie wie seine Westentasche. „Wahrscheinlich bin ich einer von
denen, die Langenthal mit am besten kennen“, meint er. Mit Wegen und Umwegen
kennt er sich aus, schliesslich organisiert er leidenschaftlich gerne
Wanderungen.
Geboren wurde Paul aber nicht in Langenthal,
sondern in Ursenbach. Danach lebte er gemeinsam mit seiner Frau Irmgard in
Zuchwil und Walterswil, bis sie schliesslich vor 25 Jahren nach Langenthal
zogen, in eine Wohnung, die ihnen von Pauls
damaligen Arbeitgeber, der Swisscom, angeboten worden war. Schnell fühlten sie
sich heimisch. „Wir hatten keine Kinder und keinen Hund. Wir wussten, dass es
auch an uns lag, rauszugehen und Anschluss zu finden“, meint Paul und erzählt,
wie er an einem Fest der Arbeitervereinigung den damaligen Präsidenten der
Naturfreunde kennengelernt habe, einen „charismatischen Typen“. Das hätte die
Integration erheblich erleichtert, ebenso wie die Mitgliedschaft in der SP.
Die Politik gehört zu seinem Leben, obwohl
sie ist ihm nicht in die Wiege gelegt worden ist. Paul war elf Jahre alt, als
sein Vater an Knochenkrebs starb. Seine Mutter, eine fröhliche, tiefreligiöse
Frau, hatte mit Politik nichts am Hut. Paul brachte sich noch vor seinem
Schuleintritt das Lesen selbst bei und so waren es Bücher, die ihn politisch
sensibilisiert haben. Und sein Blick ging dabei früh schon über die
Landesgrenzen, in das grosse, weit entfernte Russland. „Chruschtschow hat mich
damals fasziniert“, gesteht er mit einem fast schon verlegenen
Gesichtsausdruck.
Auch die Schweizer Politik vermochte es, ihn
in ihren Bann zu ziehen. Eine der allerersten Abstimmungen an der er teilnehmen
durfte, war die, für das Frauenstimmrecht.
Für Paul war es keine Frage, dass den Frauen die demokratische Mitsprache
zusteht. Auch an den Wirbel rund um die Schwarzenbachinitiative kann er sich
noch gut erinnern. Der raue Umgang mit den italienischen Einwanderern habe ihn
entsetzt. „Diese Diskussion hat die Schweiz zerrissen“, erklärt Paul die
damalige aufgeladene Stimmung. Trotzdem: Die Initiative wurde abgelehnt.
„Damals war so etwas noch nicht mehrheitsfähig“, sagt Paul, wobei er das „noch“
wehmütig betont. Jetzt, viele Jahre später, redet niemand mehr von den
Italienern, aber sowohl die Masseneinwanderungs
– als auch die Ausschaffungsinitiative sind Realität.
Die wilden 68er mit ihren Studentenprotesten
gingen grösstenteils an ihm vorbei. Er selbst war damals ein Mechaniker
–Lehrling und seine Lebensrealität war eine andere, als die der Studis. Die
Rechte der Arbeitnehmer – und Arbeitnehmerinnen lagen ihm schon früh am Herzen.
Mit 15 Jahren wurde er Mitglied in einer Gewerkschaft, mit 26 trat er in Ursenbach
der SP bei. In Zuchwil schliesslich
liess er sich zum ersten Mal für die Wahl ins Parlament aufstellen und wurde
prompt gewählt.
Bei einer Wahlveranstaltung in Zuchwil lief
Paul auch der Liebe über den Weg: Irmgard. Deren Vater war Gemeinderat – allerdings
nicht etwa für die SP, sondern für die FDP. Zwei Königskinder, die sich nicht
haben können, weil ihre Familien verfeindet sind? Romeo und Julia im Dorfe?
Eine Tragödie, die sich zwischen den Parteigrenzen spielt? Mitnichten. Auch
wenn es guter Stoff für ein Buch wäre, das Verhältnis von Paul zu seinem
Schwiegervater war entspannt. „Die FDP in Zuchwil war eher sozialliberal
eingestellt, nicht so rechtsliberal wie hier. Er hat uns Linken immer die
Stimmen weggeschnappt“, erzählt er grinsend. Irmgard, blitzgescheit, politisch
interessiert, engagiert, als Journalistin tätig: Sie wurde die Frau an Pauls
Seite. Oder er der Mann an ihrer. „Sie isch mer halt bliebe“, sagt er
augenzwinkernd, nur um dann gleich, im deutlich ernsthafteren und zärtlicherem Tonfall
hinzuzufügen: „Wir sind ein gutes Team.“
Ein Team, das auch in schwierigen
Lebenssituationen zusammenhält. Lange arbeitete Paul bei Swisscom Fixnet wo er
in der zentralen Planung vor allem lernte mit Statistiken umzugehen. Als es
sich immer mehr darum drehte, anhand der Zahlen herauszufinden, wo man noch
mehr Personal einsparen könnte, geriet der überzeugte Gewerkschafter in
Gewissensnöte. „Schliesslich habe ich mich einfach selbst abgebaut.“ Doch mit
der Nachfolgebeschäftigung, auf die Paul spekuliert hatte, klappte es nicht.
Ihn traf eben jenes Schicksal, dass viele Berufstätige fürchten: Er wurde
arbeitslos.
„Irmgard hat gearbeitet, wir mussten also
nicht darben. Dennoch war es ein komisches Gefühl nicht gebraucht zu werden“,
beschreibt Paul seinen damaligen Gemütszustands. Er bewarb sich fleissig, ging
aufs RAV, lernte Italientisch. Dann, nach drei Jahren Arbeitslosigkeit, lud ihn
die Ammann Group zum Vorstellungsgespräch ein. Und Paul wurde eingestellt. 8
Jahre arbeitete er darauf beim Ammann, als technischer Redaktor. Eine schöne
Zeit. „Ein 6er im Lotto – nur noch besser“, schwärmt er noch heute „natürlich,
ich kannte den damaligen Personalchef, Richard Bobst – auch ein sozialliberaler
FDPler – und das hat vielleicht geholfen, dass ich die Stelle gekriegt habe.
Ich habe nie nachgefragt. Aber manchmal muss man das Glück eben packen.“
Heute ist Paul pensioniert und die einst so
krisensichere Ammann Group hat im letzten Jahr 130 Stellen ausgelagert.
Schmerzt ihn das auch persönlich? „Ja schon. Als ich letztens wieder einmal
dort war und eine Halle betrat, die zu meiner Zeit noch vor Leben pulsierte,
jetzt aber fast leer ist, tat das schon weh.“ Dennoch mit Kritik an der
Geschäftsleitung hält er sich zurück. „Der Schritt war aus ökonomischer Schritt
sicher richtig. Aber wenn nach und nach immer niederschwellige Berufe
verschwinden und alle nur noch hochqualifizierte Jobs wollen, dann müssen wir
das bedingungslose Grundeinkommen einführen.“
Das bedingungslose Grundeinkommen wurde 2016
vom Stimmvolk deutlich abgelehnt. Auch die SP hatte damals die Nein – Parole
beschlossen, obwohl sie dem Anliegen naturgemäss Sympathien entgegenbrachte.
Die Initiative steht symbolisch für den Spagat, den die SP hinbekommen muss;
den Spagat zwischen Ideologie und Realität, zwischen grossen Träumen und dem
was tatsächlich möglich ist. Die sogenannten Flügelkämpfe, die Reibereien
zwischen der ganz linken und der eher der Mitte zugeneigten Seite, haben gerade
mit dem Austritt von Chantal Galladé erneut für medialen Wirbel gesorgt. Paul
ist Mitglied der Geschäftsleitung der SP des Kantons Bern. Auch hier treffen
sehr verschiedene Sektionen zusammen, die nicht alle gleich „links“ ticken.
Fliegen in der SP wirklich die Fetzen?
„Natürlich hat sich die SP gewandelt. Zuerst hatten die Lehrer immer
mehr Einfluss, dann die Akademiker. Man muss aber auch sehen, dass sich die
Arbeitswelt komplett verändert hat. Früher herrschte ein viel grösseres
Klassenbewusstsein. An irgendeinem Punkt sagten die Arbeitgeber ‚ihr seid keine
Arbeiter mehr, sondern Angestellte‘ Dadurch wurde die klassische
Arbeiterschicht aufgelöst und der Mittelstand vergrössert.“ Dass solche
Veränderungsprozesse einer Partei zu Austritten oder Abspaltungen führe, sei
normal. „Wobei ich finde: Wenn du links oder rechts bist, dann bleibst du das
auch. Das sind ja deine Werte, die ändern sich nicht. Am schlimmsten finde ich
es in der Mitte. Das zerreisst es dich, weil alle anderen an dir zerren.“
Neues Reizthema in der SP ist das EU –
Rahmenabkommen. Paul selbst ist glühender Europäer. „Europa ist für mich eine
ganz grosse Sache. Dass Europa nach all diesen Kriegen entschied, sich zu einem
Staatenbund zusammenzuschliessen: Wahnsinn! Ich bin auch klar für den EU –
Beitritt. Zwar fokussiert sich die EU zu stark auf den Handel, aber der französische
Präsident Emanuel Macron hat diese wunderbar grosse Idee von einem geeinten
Europa, das durch Werte miteinander verbunden ist.“
Das Rahmenabkommen empfindet er zwar nicht
als optimal. „Nur manchmal muss man auch mit den Dingen leben, die nicht ganz
optimal sind“, kommentiert er lapidar. Und so ist er froh, dass die Dinge beim
Rahmenabkommen jetzt wieder in Bewegung kommen. „Da Rechsteiner und Schneider –
Ammann nicht mehr die führenden Köpfe sind, besteht die Chance auf einen echten
Neuanfang.“
Wo steht denn die SP Langenthal, Pauls
Sektion, eine SP – Sektion, die auch als „rosarot“ bezeichnet wurde. Links,
rechts, Mitte? „Es gibt schon einige, die nicht wahnsinnig rot sind. Das hat
man gesehen im Fall von Alain Roth, dem JUSO – Politiker, der bei den Protesten
in Frankreich verletzt wurde und der dann von den Listen gestrichen wurde. Ich
meine, wir müssen uns doch nicht dafür rechtfertigen, wen wir auf unseren
Listen haben! Wenn sich jemand für die Rechte der Arbeitnehmer einsetzt, ist das
doch nichts Schlimmes.“. Aber auch von sich selbst sagt Paul mit einem kleinen
Schmunzeln: „Ich bin auch nicht immer ein echter Linker.“
Dass die SP Langenthal eher der Mitte
zugeneigt ist, liegt wohl auch daran, dass sie in einem sehr bürgerlich geprägten
Parlament politisiert. Wenn sich FDP und SVP einig sind, hat die SP keine
Chance sich durchzusetzen. Ist das nicht frustrierend? Für Paul keineswegs
Obwohl erst vor kurzem seine Motion den Boden in Langenthal als öffentliches
Gut zu sichern gescheitert ist, sieht Paul positiv in die Zukunft. „Es gibt
schliesslich immer noch die Option der Volksinitiative. Wenn es uns gelingt
eine aufzugleisen, wenn möglich gekoppelt mit den Wahlen, haben wir eine
Chance. Und bei den Wahlen können wir die Verhältnisse schliesslich wieder
drehen.“
Man spürt: Paul ist einer, der die
Spielregeln kennt und sich auf dem politischen Parkett mühelos bewegt. In der
Langenthaler Stadtpolitik ist er eine feste Grösse. 1997 wurde in den Stadtrat
gewählt. 2005 hätte er die Chance gehabt in den Gemeinderat nach zu rutschen.
Er verzichtete. „Ich glaube, ich bin kein Exekutivpolitiker“, begründet er
seine Entscheidung. 2007 trat er auch im Stadtrat zurück, weil er fand, es sei
Zeit für etwas Neues. Aber schon 2012 wollte er es wieder wissen. Seitdem sitzt
er wieder im Stadtrat „Gewählt zu werden schon ein schönes Gefühl. Besonders
weil ich immer viele SP – Stimmen bekommen habe.
Das ist für mich eine Bestätigung, dass die Partei hinter mir steht.“ Sein
politisches Engagement begründet er ganz einfach: „Wenn ig amene Ort bi, denn
wott ig au drischnurre!“
Wobei das Parlament durchaus nicht machen
kann, was es will. Absolute Macht, das hat niemand in Langenthal. Nicht einmal
der Stapi. „Man muss sich eben arrangieren.“ Politik bedeutet Durchhaltewillen
und Überzeugungsarbeit. Also schönsten Erfolg in seiner Stadtratslaufbahn
bezeichnet Paul dann auch die Kompogasanlage in Langenthal. „We me öppis wott
erreiche, muess mer’s zäme erreiche!“ Damals ist es ihm gelungen, in allen
politischen Parteien Befürworter zu finden. Für ä gueti Sach, ebe.
Obwohl Paul selbst mit einem vorzüglichem
Gedächtnis und einer ausgezeichneten Allgemeinbildung brillieren kann – 2011
stellte er das bei 1:100 in SRF unter Beweis, als er mal eben den Jackpot
knackte – schätzt er Intelligenz nicht als zwingende Fähigkeit für ein
politisches Amt ein. Wichtiger seien Geselligkeit und eine gute
Menschenkenntnis. „Auch eine gewisse Naivität ist nicht schlecht. Der Glaube,
dass es irgendwie dann schon geht.“ Eigenschaften, die er zweifellos besitzt.
„Nur, manchmal fällt es mir schwer, meine Gedanken in Worte zu fassen“, stellt
er selbstkritisch fest.
Auch sonst ist Paul mit genügend Selbstironie
ausgestattet. So bezeichnet er sich schon mal als „alten Sack“. Dass Rentner
wie er im Zuge der hitzigen Debatten um die AHV – Sanierung oft angegriffen
werden, weil sie auf Kosten der jungen Generation leben, nimmt er gelassen. „Da
haben sie schon Recht. Aber irgendeinmal werden die Jungen auch für sie zahlen.
Man muss ihnen das Solidaritätsprinzip klarmachen. Früher lebten die Leute in
Mehrgenerationenhäuser. Da wurden auch die Alten von den Jungen unterstützt.
Die AHV, das ist ein irrsinniges Werk, das wir unbedingt bewahren und
weiterentwickeln müssen!“
So gekonnt wie er seine Argumente
hervorbringt - fast wie ein geübter Bogenschütze, der seine Pfeile aus dem
Köcher zieht - und wie er gesellschaftliche Herausforderungen in direkten Bezug
zu politischen Begebenheiten stellt, da fragt man sich, wieso er nie nach
höheren Weihen gestrebt hat. „National – oder Ständerat: Das hat sich einfach
nicht ergeben. Ich wurde auch nie gefragt.“ Und dann, mit diesem für ihn so
typischen spitzbübischem Grinsen: „Aber was nicht ist, das kann ja noch werden.
Schliesslich ist Trump auch schon ziemlich alt!“
Pöilu, i ha aus gläse. Du bische en geile Siech.
AntwortenLöschenAber i bi glich SVP
Mumi Huttu