Saima Linnea Sägesser (*1993) ist vor kurzem
in den Stadtrat nachgerutscht und bringt als junge Frau frischen Wind ins
Gremium. Obwohl erst Mitte Zwanzig kann sie inzwischen auf eine fast
zehnjährige Laufbahn in der sozialdemokratischen Partei zurückblicken. 2012 und
2016 kandidierte sie als Stadträtin, 2014 und 2018 als Grossrätin. Angefixt von
der Politik wurde sie bei einem Podium zum Stimmrechtsalter 16. „Ich erinnere
mich noch an Nadine Masshard, Reto Müller und Patrick Freudiger, die damals bei
uns am Gymnasium diskutierten. Das war ziemlich cool, dass sie sich dafür die
Zeit genommen haben, weil wir ja damals noch gar nicht demokratisch
mitbestimmen konnten.“
Später wurde sie von Reto Müller ermuntert,
in die Partei einzutreten. Nach dem Besuch einer SP – Weihnachtsfeier, stand
ihre Entscheidung definitiv fest und sie kümmerte sich gleich selbst um das
Ausfüllen der Beitrittskarte. Das ist bezeichnend für sie. Neugierig, offen und
bereit sich in alles Neue zu stürzen. Als sie als Pfadileiterin aufhörte,
intensivierte ihr Engagement in der Partei. „Ich musste die Lücke füllen. Es
gehört einfach zu mir und meinem Leben, mich ehrenamtlich zu betätigen.“
Ihr Vater wählte zwar immer SP, ist Mitglied
einer Gewerkschaft und durchaus politisch interessiert, die Lokalpolitik war
jedoch kein Dauerthema am Küchentisch. „Wir sind sicher nicht eine dieser
Politikerdynastien, bei der alle Mitglieder in der Politik sind“, erklärt sie.
Ihre Mutter ist Finnin, deshalb hat Saima als Doppelbürgerin, die Möglichkeit
auch bei den Europawahlen ihre Stimme abzugeben. „Ich bin der Ansicht, dass
Wählen nicht nur ein Recht ist. Sondern auch eine Pflicht“, betont sie.
Am Anfang ihrer politischen Laufbahn hatte
sie nie mit Widerständen zu kämpfen. Weder ihre Jugend noch ihre Weiblichkeit
wurden ihr als Nachteil ausgelegt, im Gegenteil. Ihre unverbrauchte Art
erleichterte ihr vieles. Von Geschlechterklischees blieb Saima lange Zeit
unbelastet. Sie und ihre jüngere Schwester wurden frei von eingefahrenen
Rollenbildern erzogen. So war es auch nie ein Diskussionsgrund, dass sie sich
nicht für Ballett oder Reiten interessierte, sondern lieber Karate lernte und
als Pfadfinderin durch den Wald tobte.
Deshalb waren feministische Themen für sie in
der ersten Zeit als Politikerin nicht sehr präsent. „Für mich spielte das
Geschlecht wirklich nie eine Rolle. Es war für mich immer selbstverständlich,
dass ich die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie ein Mann habe.“ Dann begann
sie ihr Studium in Geschlechterforschung. „Ich begriff, dass ich eben nicht die gleichen Chancen habe wie ein
Mann.“ Auch die Schilderungen von älteren Stadträtinnen, die für so vieles
kämpfen mussten, sensibilisierten sie.
Jetzt ist sie selbst Stadträtin und damit
eine von gerade mal neun Frauen. In ihrer Fraktion – SP/GL – sind es sogar nur
drei Frauen. Das macht es ihr als Nachrückerin noch schwerer, sich zu
positionieren. „Ich hätte gerne eine Art Gotti gehabt, die mir ein paar Tipps
gibt“, meint sie. Der ganze „Aktengugus“, wie sie es lachend nenn, sei nicht
leicht zu verstehen. Dabei ist sie es sich eigentlich gewohnt, Einzelkämpferin
zu sein. Sie reist alleine durch die Welt, auch „Kultur im Stöckli“, ihr
Keller, indem sie Kunstschaffenden eine Plattform bietet, hat sie selbst auf
die Beine gestellt. „Aber in der Politik bringt es nichts, alleine für etwas
einzustehen. Man muss zusammen etwas erreichen.“
Als eine von wenigen Frauen in einer
Männerdomäne unterwegs zu sein beschreibt Saima als anstrengend, obwohl es
grossen Spass mache. „Es ist einfach so, dass Frauen mehr leisten müssen, sie
müssen mehr investieren und mehr Akten lesen, weil sie stärker kritisiert
werden. Jedes Wort einer Frau wird auf die Goldwaage gelegt. Das ist nicht
einfach ein Empfinden, das sind belegbare Fakten“, führt sie aus. Mit diesem
Wissen im Hinterkopf sei es schwierig, unbelastet Politik zu betreiben. Vor
ihrer Zeit als Stadträtin hat sie sich nie gross Gedanken gemacht, wie man
politisiert, sie hat einfach instinktiv gehandelt. Diese Freiheit fehle ihr im
Stadtrat noch. Ein paar Frauen mehr an ihrer Seite würde die Eingewöhnung
vereinfachen.
Nur, warum fehlen sie denn, die Frauen im
Stadtrat und im Gemeinderat? Saima vermutet, dass das auch am generellen Mangel
an jungen Menschen in der Gemeindepolitik liegen könnte. „Ältere Menschen leben
vielleicht noch vermehrt das klassische Rollenbild. Der Mann arbeitet und
politisiert, die Frau schmeisst den Haushalt und kümmert sich um die Kinder.“
Woran es aber genau liegt, kann sie nicht benennen.
Selbst die SP, die eigentlich eine
Vorreiterin ist, wenn es um eine geschlechtermässig ausgewogene Vertretung in
der Politik geht, hat momentan einen tiefen Frauenanteil in der aktiven
Gemeindepolitik. Im Gemeinderat sitzt gar keine linke Frau. „Wir hatten viele
berühmte Männer auf der Liste, die enorm viel Stimmen geholt haben. Dadurch
schnitten die Frauen schlechter ab“, interpretiert Saima die Wahlergebnisse von
2016. Und ja, es sei tatsächlich schwieriger, Kandidatinnen zu finden als
Kandidaten.
Frauen steckten einfach oft in
Lebenssituationen, die eine Kandidatur erschweren. Etwa, wenn sie
alleinerziehend sind und schlichtweg keine Zeit für ein zeitraubendes Amt
haben. Zudem sei es nicht immer einfach, prominente Frauen mit guten
Wahlchancen zu finden. „Wann ist denn eine Frau in Langenthal bekannt? Entweder
weil sie einen prominenten Ehemann hat oder weil sie eine glänzende Karriere in
der Wirtschaft hingelegt hat. Im letzteren Fall wollen sie das nicht aufgeben,
um Politik zu machen“, führt Saima aus.
Dazu kommt noch dazu, dass Frauen sich oft
nicht gerade darum reissen im Mittelpunkt zu stehen. „Frauen haben grössere
Selbstzweifel als Männer, ihnen fehlt oft der Mut dazu, auch mal
draufgängerisch zu sein. Männer dagegen leben das geradezu rücksichtslos aus“,
erläutert Saima. Sie ist überzeugt, dass diese charakterlichen Unterschiede
zwischen Mann und Frau nicht genetisch bedingt sind. Vielmehr habe es mit
Rollenbildern zu tun, die uns schon früh vermittelt würden und die gesellschaftlich,
kulturell und historisch konstruiert worden sind. Da der draufgängerische Mann,
dort die zurückhaltende Frau.
Dass die Frauen so schlecht vertreten sind in
der Langenthaler Politik, ist auch deshalb bedauerlich, weil gemischte Teams
nachweislich besser arbeiten, als ein rein männliches oder rein weibliches
Team. Das Co – Präsidium der SP Langenthal ist ein solches gemischtes Gremium.
Saima ist die eine Hälfte, Roland Loser die andere. Für seine Sekretärin wurde
sie zwar noch nie gehalten, dennoch spürt sie immer wieder, dass ihm als Mann
automatisch mehr Kompetenz zugetraut wird. Ihn rufen die Leute an, wenn sie
eine Frage haben. Mails beginnen mit „ich habe Roland Loser nicht erreicht,
deshalb schreibe ich halt dir“ und auch die Presse will grundsätzlich mit ihm
reden. Dabei sei Roland keiner, der das Rampenlicht um jeden Preis will. „Er
verweist dann auch auf mich, wenn er das Gefühl hat, dass er jetzt genug in der
Zeitung war“, berichtet Saima. Aber genau das sei die Frage: Wieso bekommt der
Mann automatisch Aufmerksamkeit und die Frau muss sich diese erkämpfen?
„Die Medien fokussieren sich mehr auf die
Männer“, schlussfolgert Saima. Und nicht nur das. Die Charaktereigenschaften
würden anders betont. Was bei einem Mann als positiv herausgestrichen wird, wie
zum Beispiel Ehrgeiz, wird bei einer Frau schnell negativ ausgelegt. „Frauen
können es einfach nie recht machen. Sie sind zu prüde, zu sexy, zu männlich, zu
mütterlich, zu freundlich, zu harsch…man hört nie: Diese Politikerin macht es
perfekt, es gibt immer was zu
kritisieren.“ Als prominentes Beispiel nennt Saima den SP Bundesrat und die SP
– Bundesrätin. „Simonetta wird auch in der SP - Basis ständig kritisiert. Alain
dagegen ist der Liebling von allen.“
Möglicherweise liegt es auch an dieser nicht
gerade zimperlichen Behandlung von Politikerinnen, dass viele Frauen lieber
ganz auf ein solches Amt verzichten. So gab es in Langenthal auch noch nie eine
Stadtpräsidentin. Paula Schaub unterlag 2006 sowohl SP – Mann Kurt Blatter als
auch dem späteren SVP- Stadtpräsidenten
Thomas Rufener im Kampf um das Stadtpräsidium.
„Es war einfach klar, dass Reto kandidieren
würde. Er hatte die grösste Erfahrung und er wollte es auch. Für so ein Amt
muss man sich rechtzeitig in Position zu bringen. Und es gab schlichtweg keine
Frau, die sich dafür interessierte“, antwortet Saima auf die Frage, wieso die
SP sich 2016, als das Stadtpräsidium erneut zur Wahl stand, nicht für eine
Frauenkandidatur, sondern für Reto Müller entschied.
Auch in den Kommissionen sind Frauen schlecht
vertreten. Zu reden gab dabei in der Vergangenheit die nichtständige Kommission
für die Revision des Wahl – und Abstimmungsreglements. In dieser wichtigen und
wegweisenden Kommission war keine einzige Frau zu finden. Auch die SP stellte
zwei Männer. Darauf angesprochen meint Saima: „Dafür wurden wir auch
kritisiert. Nur wollten die Frauen nicht, manche aus Zeitgründen, andere weil
es zwar ein wichtiges, aber sehr trockenes Geschäft ist.“ Das sei wiederum die
Kehrseite der Medaille. Oft überliessen Frauen die Schlüsselrollen
widerspruchslos den Männern, weil sie sich in finanziellen und rechtlichen
Fragen zu unsicher fühlen.
Haben die Langenthalerinnen denn realisiert,
dass sie in der Stadtpolitik schlecht vertreten sind? Am Frauenstreiktag gingen
500 Frauen in Langenthal auf die Strasse. Ein Zeichen für Veränderung? Saima
hofft es auf jeden Fall. Sie selbst wies in ihrer Rede auf den niedrigen
Frauenanteil in Parlament und Exekutive hin. „Ich glaube, da ist bei vielen der
Groschen gefallen.“
Saima wünscht sich mehr Frauen in der
Politik, wobei sie unterscheidet, zwischen Frauen, die politisieren und Frauen,
die Politik für Frauen machen. Letzteres bedeutet für sie, sich stark machen
für Tagesschulangebote und für auswärtige Kinderbetreuung. „Generell
Familienpolitik, weil sie sich zwangsläufig mehr damit beschäftigen.“ Aber auch
öffentliche Sicherheit sei ein Thema, mit dem sich Frauen leider oft verstärkt
auseinandersetzen müssen, denn sie haben das wesentlich höhere Risiko, Opfer
einer Gewalttat zu werden.
Was muss Langenthal denn tun, damit mehr
Frauen in die Politik einsteigen und sie aktiv mitgestalten? Saima nennt gleich
ein ganzes Bündel an Vorschlägen. „Es geht ja nicht nur darum, Frauen in die
Politik zu bringen, es geht ganz allgemein darum, Menschen in die Politik zu
bringen. Dazu muss man die Stadtpolitik ins rechte (bzw. lieber linke) Licht
rücken. Die Stadt sollte Medienmitteilungen schreiben, die Bevölkerung
aufrufen, zu kandidieren, immer wieder darauf aufmerksam machen, dass
Stadtratssitzungen öffentlich sind.“ Aber auch die Schulen nimmt Saima in die
Verantwortung. „Es braucht mehr politische Bildung. Warum nicht mal ein paar
Stadträte und Stadträtinnen in die Schule einladen?“
Und dann brauche es Quoten für den Stadtrat,
den Gemeinderat und die Kommissionen. Aber auch die Wichtigkeit von der
gendergerechten Sprache, also eine Sprache, die sich auf alle möglichen
Geschlechter bezieht, statt nur die maskuline Form zu verwenden, streicht sie
hervor. Durch ihr Studium ist ihr die Macht der Formulierung bewusst geworden.
Der viel geäusserten Argumentation, dass mit dem Maskulinum die weibliche Form
natürlich mitgemeint sei, kann Saima nicht viel abgewinnen. „Stell dir vor, es
wäre umgekehrt und wir würden nur die weibliche Form verwenden. Das würden die
Männer auch nicht witzig finden!“
Auf die Frage, was sie einer Newcomerin auf
den Weg geben würde, lacht sie. „Hey, ich wünsche mir, dass mir jemand Tipps
gibt, ich bin schliesslich auch Anfängerin. Das was ich die letzten Jahre im
Vorstand gemacht habe, unterscheidet sich nicht von anderer Vereinsarbeit.“
Wieder kommt sie auf die politische Bildung in der Familie zu sprechen.
„Zeitung lesen ist auch wichtig. Sich informieren, auf dem Laufenden bleiben.“
Ausserdem bedauert sie, dass junge Menschen vor dem 18. Lebensjahr nicht
politisch mitdenken dürfen, weil ihnen das Wahl – und Stimmrecht verwehrt ist.
Das hat auch Folgen für den dringend benötigten Nachwuchs. Oft seien die jungen
Menschen beim Erreichen der Volljährigkeit schon an so vielen Orten engagiert,
dass schlichtweg die Zeit fehlt, auch noch in einer Partei mitzuwirken.
Saima ist inzwischen bekannt dafür, sich in
Geschlechterfragen zu äussern und sich für Frauenrechte stark zu machen. Das
bedeutet für sie auch einen inneren Zwiespalt. „Eigentlich will ich gar nicht
über Frau/Mann reden, weil es keine Rolle spielen soll. Für mich spielt es auch
keine Rolle. Aber weil es eben immer noch eine Rolle spielt, ob du eine Frau
oder ein Mann bist, müssen wir darüber reden“, beschreibt sie ihr Dilemma.
Und was können die Frauen selbst tun? Auch da
weiss Saima Rat. „Froue müesse eifach ou de Finger usem Arsch näh!“
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